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Rasse und Individuum/ Plädoyer für eine vollendet künstliche Amoral

Montag, 11. April 2011 at 02:16

(ich habe den text ungefähr um die hälfte gekürzt. so kann manche argumentation etwas unvermittelt erscheinen;Gerade das was er über den antirassismus sagt wird im ersten teil diskutiert. also ein freundliches lesen… ja )
”für Zerlina

„Nur durch die Kultivierung der Fähigkeit zu geistiger Kritik werden wir uns über Rassenvorurteile erheben können [...] Die Kritik wird die Rassenvorurteile zum Verschwinden bringen, indem sie auf der Einheit des menschlichen Geistes in allen seinen unterschiedlichen Formen insistiert.“
Oscar Wilde, Der Kritiker als Künstler

II. Für einen, der Zeit seines Lebens nicht nur für solch einen unumschränkten Individualismus eintrat, sondern auch versuchte, als Individualist zu leben, war deshalb alle Opfersehnsucht schlicht ein Gräuel: „Zu bedenken ist noch, dass der Individualismus nicht mit irgendwelchem kranken Geschwätz über Pflichten an den Menschen herantritt, womit nichts anderes gemeint ist, als das zu tun, was andere wollen, bloß weil sie es wollen; noch wird er uns mit irgendwelchem abscheulichen Gerede über Selbstaufopferung kommen, was nur ein Rest des barbarischen Brauchs der Selbstverstümmelung ist. Tatsächlich tritt der Individualismus ohne jede Forderung an den Menschen heran.“ (33) Und über die notorische Leidensbereitschaft der Menschen schreibt er gleichermaßen verwundert wie mit klarem Blick für ihre fatale polit-ökonomische Bedingtheit: „(Es) geht von der schrecklichen Wahrheit, dass der Mensch sich durch Leiden verwirklichen kann, eine wundersame Faszination auf die Welt aus. Sonntagsredner und Kleingeister wettern oft genug von Kanzeln und Tribünen herab über die Genusssucht der Welt und lamentieren dagegen. Aber wie selten ist es in der Weltgeschichte vorgekommen, dass man Freude und Schönheit zum Ideal wählte. Weit öfter hat die Anbetung des Leidens vorgeherrscht [...] Das Leiden ist nicht die letzte Stufe der Vollendung. Es ist nur ein vorläufiger Protest. Es hängt unmittelbar zusammen mit schlechten, ungesunden und ungerechten Lebensverhältnissen.“ (34)
Der sich gegen derartige Zumutungen, die das Leben unterm Kapitalverhältnis so unerträglich machen, mit den Waffen eines Dandys und Gentlemans wehrte, ist der Schriftsteller Oscar Wilde, dessen 1891 publizierter und 1904 auf Deutsch in einer Übersetzung von Gustav Landauer erschienener Essay „The soul of man under socialism“ bereits Karl Kraus als „das Tiefste, Adeligste und Schönste, das der vom Philistersinn gemordete Genius geschaffen, mit ihrer unerhörten Fülle der Leben und Kunst umspannenden Betrachtung als das Evangelium modernen Denkens“ (35) erschien. Obwohl Wildes Essay durchaus Züge eines Manifests trägt, ist es doch kein solches, sondern eine Philosophie im besten Sinne: eine Lehre von den Bedingungen des Glücks, von kritischem Geist durchherrscht und mit Charme, Witz und Eloquenz vorgetragen. Es mutet zunächst merkwürdig an, dass Wildes Aufsatz außer ein paar Bemerkungen hier und da so gar keine Rezeption erfahren hat und dort, wo er wahrgenommen wird, auch heute noch bestenfalls Verlegenheit hervorruft (36): weder den Bürgerlichen noch den Sozialisten bzw. Kommunisten mochte es einleuchten, dass ausgerechnet der Meister der Selbststilisierung und Décadent Wilde zum Sozialismus etwas von Belang zu erzählen habe. Man mag soviel Ignoranz (37) bedauern – uns versetzt sie jedenfalls in die komfortable Situation, sich direkt und ohne Umschweife mit Wildes Essay beschäftigen zu können, ohne dabei den unappetitlichen Schutthaufen abtragen zu müssen, der sich üblicherweise um ein Werk aufgetürmt hat und den man dann euphemistisch Rezeptionsgeschichte nennt. Erklärte Absicht ist es, mit diesem Text Oscar Wildes Schaffen, nicht nur dem genannten Aufsatz, um den es im folgenden hauptsächlich gehen wird, unter materialistischen Kritikern endlich die Aufmerksamkeit zu verschaffen, die ihm längst gebührt: keine Ideologiekritik, die diesen Namen auch wirklich verdient, die sich nicht Karl Marx, Theodor W. Adorno und Oscar Wilde zueignet.
Wobei es auf den zweiten Blick so merkwürdig gar nicht ist, dass die sozialistische Bewegung Wilde entweder belächelte oder gegen ihn, wie die abscheulichen Stichworte lauten, den Vorwurf des Ästhetizismus, der Dekadenz, des Zynismus erhob, ihm unterstellte, er wolle im Grunde nur die eigene Lebensform als Dandy, Bohemien und Künstler auf die ganze Gesellschaft übertragen – was selbst dann, wenn es wahr wäre, keinen Vorwurf begründen könnte. Die Rancune, die aus dieser Abqualifizierung spricht, hat freilich einen objektiven Anhaltspunkt: denn gerade der Schriftsteller, Ästhet und Dandy Oscar Wilde war den Sozialisten aller Couleurs nicht nur augenscheinlich an Stil, Geschmack und Empfindungsfähigkeit voraus, sondern er blamiert sie in seinem Essay bis auf die Knochen, indem er eine Kritik am Privateigentum formuliert, die einerseits auf den Ökonomiekritiker Marx zurückweist und seine wesentlichen Impulse aufgreift (und das, ohne dass Wilde ihn rezipiert hätte) und andererseits in einer bis dahin nie dagewesenen Radikalität, vergleichbar sonst nur mit der Kritik von Karl Kraus, die an Kunst zu schulende ästhetische Erfahrung als den zentralen Nerv einer jeden Gesellschaftskritik ausweist und darin – man bedenke das Entstehungsjahr 1890! – weit auf die Kritische Theorie von Horkheimer, Adorno, Marcuse, Löwenthal vorausweist. Und damit nicht genug, vermag Wilde es auch, nicht nur die sozialistische Bewegung, mit der er doch irgendwie auch sympathisierte, sondern alle idealistisch gesonnenen Sozialreformer und Menschheitsbeglücker, ob bürgerlich oder sozialistisch, als Teil jenes Übels dastehen zu lassen, zu dessen Bekämpfung sie angetreten sind.
Während fast alle Welt, die Sozialisten und Kommunisten, die Gutmenschen, die Bürger, wenn sie schlecht aufgelegt sind, weil eine Krise sie erwischt hat, der Papst und heute allen voran die Islamisten den Kapitalismus dafür anklagen, dass er Solidarität, Gemeinsinn, Nächstenliebe, Mitmenschlichkeit systematisch zerstöre und dafür eine Herrschaft schranken- und mitleidslosen Egoismus’, scham- und zügelloser Individualität, kalter und unbarmherziger Raffgier errichte, beginnt Wilde seinen Essay über den Sozialismus folgendermaßen: „Der größte Vorteil, den die Einführung des Sozialismus mit sich brächte, wäre zweifellos die Tatsache, dass der Sozialismus uns vom unwürdigen Zwang, für andere zu leben, befreien würde, ein Zwang, der unter den gegenwärtigen Bedingungen auf fast allen so schwer lastet. Es gibt in der Tat kaum jemanden, der sich ihm entziehen könnte [...] Die Menschen ruinieren ihr Leben durch einen ungesunden und übertriebenen Altruismus – sie werden geradezu dazu gezwungen, es auf diese Art zu ruinieren. Sie sehen sich umgeben von schrecklicher Armut, schrecklicher Hässlichkeit, schrecklichem Hunger. All dies macht sie unweigerlich betroffen. Die Gefühle des Menschen regen sich weitaus rascher als sein Verstand [...] Deshalb macht man sich mit bewundernswerten, wenngleich fehlgeleiteten Absichten sehr ehrgeizig und sehr naiv daran, die Missstände ringsum zu beseitigen. Aber die Heilmittel bekämpfen die Krankheit nicht. Sie verlängern sie nur noch. Im Grunde sind sie sogar selbst ein Teil der Krankheit.“ (38)
Fürst, Papst und Volk
Die Kategorien Individualismus und Altruismus, die Wilde einander konfrontiert und deren Diskussion seinen Essay wie ein roter Faden durchzieht, bezeichnen keine raum- und zeitenthobenen, ab¬strakten und konstituierenden Prinzipien, sondern eine gesellschaftliche Konstellation. Vermöge des Begriff des „Altruismus“ gelingt es Wilde, unmittelbar zugleich sowohl die Selbstideologisierung der kapitalistischen Vergesellschaftung in Gestalt abstrakt-idealistischer Prinzipien zu treffen als auch den Versuch, diesen Idealismus sich zum Zweck der Sozialreform als Gesinnung praktisch zuzueignen und zu verwirklichen. Es ist eine grundlegende Existenzbedingung der kapitalistischen Vergesellschaftung, dass ihre Exponenten gleichwelcher Klassenzugehörigkeit den zutiefst profanen und prosaischen Charakter dieser Vergesellschaftung mystifizieren und idealisieren müssen. Der banale Vorgang der Verwertung von Kapital muss, um reibungslos funktionieren zu können, als sein Gegenteil, als höheres kulturelles Ideal, als selbstloser Dienst am Menschen erscheinen. – Wobei diese Idealisierung ursprünglich keine vom Subjekt willkürlich erfundene und zur Realität „hinzutretende“ Bestimmung darstellt, sondern eine Idealisierung, die der kapitalistischen Realität selbst objektiv entspringt und sich dem Subjekt als „objektive Gedankenform“ spontan aufprägt: sie selbst erscheint auf ihrer Oberfläche als harmonisch gefügte, in sich stabile Gemeinschaft freier und gleicher Tauschsubjekte, als ein „Eden“ der angeblich angeborenen und vom Staatsverband bloß garantierten „Menschenrechte“ (39), ein Schein, in der der unhintergehbare, in Krisen sich entladende Zwangs- und Herrschaftscharakter dieser Vergesellschaftung den Individuen nicht unmittelbar evident wird. (40) (41)
Der historische Sozialismus in all seinen verschiedenen Richtungen, ob sozialistisch, sozialdemokratisch oder parteikommunistisch, war, systematisch und historisch betrachtet, nichts weiter als der untaugliche Versuch, den notwendig verkehrten ideellen Ausdruck der bürgerlichen Gesellschaft wiederum „verwirklichen“ zu wollen – was bereits Marx als die „Albernheit der Sozialisten“ bezeichnete, „(namentlich der französischen, die den Sozialismus als Realisation der von der französischen Revolution ausgesprochenen Ideen der bürgerlichen Revolution nachweisen wollen), die demonstrieren, dass der Austausch, der Tauschwert etc. ursprünglich (in der Zeit) oder ihrem Begriff nach (in ihrer adäquaten Form) ein System der Freiheit und Gleichheit aller sind, aber verfälscht worden sind durch das Geld, Kapital etc.“ (42) Eben darin war der historische Sozialismus in seiner erdrückenden Mehrheit de facto nie ein veritabler Antagonist der Bürgerwelt, sondern der von ihr ungeliebte Erbe ihres linken Flügels, nämlich der Jakobiner und Enragés mit ihrem notorischen Staats- und Polit-Idealismus. Den Gegensatz von Ökonomie und Politik, in dem die kapitalistische Vergesellschaftung sich notwendig bewegen muss und der im einzelnen Subjekt als Gegensatz von bourgeois und citoyen aufscheint (43), haben sie, wie ihre Vorgänger in der Französischen Revolution, konsequent als antagonistischen Widerspruch missdeutet; und deshalb galt ihnen die „Politik“, die Sphäre des Staates nicht als das, was sie allein sein kann: als ein den ökonomischen Zwangsverhältnissen komplemen¬täres, diese verdoppelndes Verhältnis, sondern in Gegenteil als Verkörperung des allgemein-menschlicher Tugenden wie Gemeinsinn, Selbstlosigkeit, Altruismus, Sittlichkeit und Moral – kurz: als ein „an sich“ bereits vorhandenes sozialistisches Ideal, das aber noch einer produktiven Basis bedarf, damit es auch tatsächlich „für sich“ verwirklicht ist; und diese Basis ist der sozialistische Volksstaat, in dem die produktive Klasse der Arbeiter endlich, wie es in der schlimmen 3. Strophe der „Internationale“ heißt, die unproduktiven bürgerlichen „Müßiggänger beiseite schiebt“ und die Demokratie, d.h. den „Staat des ganzen Volkes“ verwirklicht.
Dass ein Sozialismus, der sich aus altruistischen Motiven speist und sich auf altruistische Tugenden beruft, den von der bürgerlichen Gesellschaft ausgehenden objektiven „Zwang, für andere zu leben“, in noch schlimmerer, d.h. unmittelbarer Form reproduzieren muss, stand Wilde klar vor Augen, ebenso, dass dies einen veritablen Rückschritt bedeutet: „Aber ich muss gestehen, dass hinter vielen sozialistischen Ansichten, denen ich begegnet bin, Züge von autoritärer Macht, wenn nicht gar von unmittelbarem Zwang hervorscheinen [...] Wenn der Sozialismus autoritär auftritt, wenn die Regierungen ihre heutige politische Macht gegen ökonomische Macht eintauschen, kurzum wenn es zur industriellen Tyrannei kommt, dann hätte sich die Lage des Menschen zum Schlechteren gewandelt.“ (44) Und weiter: „Während das gegenwärtige System immerhin einer sehr beträchtlichen Zahl von Leuten ein Leben mit einem gewissen Maß an Freiheit und Entfaltung und Glück ermöglicht, würde in einem industriellen Kasernensystem oder einer ökonomischen Tyrannei niemand in den Genuss solcher Freiheiten gelangen. Es ist zu bedauern, dass ein Teil unserer Gesellschaft praktisch ein Sklavendasein fristet, aber das Problem dadurch lösen zu wollen, dass man die ganze Gemeinschaft versklavt, wäre kindisch.“ (45) Das von Linken auch heute noch gerne proklamierte „Recht auf Arbeit“ durchschaute Wilde als allgemeinen Arbeitszwang im Staatsauftrag, und darüber ließ er mit sich erst gar nicht reden: „Autorität und Zwang stehen natürlich ganz außer Frage [...] Jeder Mensch muss seine Arbeit frei wählen können. Ihm darf keinerlei Zwang auferlegt werden. Geschieht dies doch, ist seine Arbeit weder für ihn noch an sich, noch für die anderen von Nutzen. Und es sei hinzugefügt, dass ich unter Arbeit jedwede Art von Tätigkeit verstehe.“ (46) Dass der Sozialismus bis heute beansprucht, die „wahre Demokratie“ zu verwirklichen, macht die Sache gerade nicht besser, sondern noch schlimmer; Horkheimers und Adornos demokratiekritische Einsicht in die „Einheit von Kollektivität und Herrschaft“: „Was allen durch die Wenigen geschieht, vollzieht sich stets als Überwältigung Einzelner durch Viele: stets trägt die Unterdrückung der Gesellschaft zugleich die Züge der Unterdrückung durch ein Kollektiv“ (47), war bereits für Wilde selbstverständlich: „Sämtliche Regierungsformen sind als unzulänglich zu erachten. [...] Einst wurden große Hoffnungen in die Demokratie gesetzt; aber die Demokratie ist nichts weiter als die Herrschaft des Knüppels über das Volk durch das Volk für das Volk.“ (48) bzw.: „Es gibt drei Arten von Despoten: den Despoten, der den Leib knechtet, den Despoten, der die Seele knechtet und den Despoten, der Leib und Seele zugleich knechtet. Der erste heißt Fürst. Der zweite heißt Papst. Der dritte heißt das Volk.“ (49) „Wer das Volk führen will, ist gezwungen, sich dem Pöbel anzuschließen“ (50), wusste Wilde nur zu genau, während die Sozialisten aller Couleurs es bewusstlos praktizierten, wenn sie die zur „antikapitalistischen Sehnsucht“ geadelte anti¬semitische Mordlust des Pöbels bedienten.
Mitgefühl und Wissen
Als rückschrittlich zu kritisieren sind aber nicht nur die autoritär-kollektivistischen sozialistischen Regimes, die Wilde noch nicht kannte, aber vorausahnte, sondern bereits die in der Gegenwart agierenden Bewegungen und die in ihnen zum Ausdruck kommende Haltung, da sie schon für sich genommen den ohnehin existierenden Zumutungen des gegenwärtigen kapitalistischen Alltags noch eine weitere Plage hinzufügen: den Sozialcharakter des „wohlmeinenden und aufdringlichen Weltverbesserers“ oder auch des „gemeingefährlichen Philanthropen“ (51): „Man hört immer wieder, der Schulmeister sterbe aus. Ich wünschte beileibe, dem wäre so. Aber der Menschentypus, von dem er nur ein und gewiss noch der harmloseste Vertreter ist, scheint mir wahrhaftig unser Leben zu beherrschen; und wie auf ethischem Gebiet der Philanthrop die größte Plage ist, so ist es im Bereich des Geistes derjenige, der so sehr damit beschäftigt ist, andere zu erziehen, dass er nie Zeit gehabt hat, an seine eigene Erziehung zu denken [...] Wie schlimm aber, Ernest, ist es, neben einem Menschen zu sitzen, der sein Leben lang versucht hat, andere zu erziehen! Welch eine grausame Tortur! Was für eine entsetzliche Borniertheit, die unvermeidlich aus der fatalen Gewohnheit resultiert, anderen seine persönlichen Überzeugungen mitteilen zu wollen! Wie sehr dieser Mensch durch seine geistige Beschränktheit auffällt! Wie sehr er uns und fraglos auch sich selbst anödet mit seinen endlosen Wiederholungen und seiner krankhaften Besserwisserei! Wie sehr er jedes Anzeichen geistigen Wachstums vermissen lässt! Wie verhängnisvoll ist der Kreis, in dem er sich unablässig bewegt.“ (52) Sie werden, liebe Leser, sicherlich schon die Erfahrung solcher Nervensägen gemacht haben oder eine davon in ihrem Bekanntenkreis wissen; und auch wenn dieser Sozialcharakter des Gutmenschen offenbar eine fast zeitlose Erscheinung darstellt und in den verschiedensten Lebensbereichen anzutreffen ist, ist die Wahrscheinlichkeit, ihm in fortschrittlichen sogenannten „politischen Zusammenhängen“ zu begegnen, besonders hoch: werden doch hier traditionell die altruistischen Tugenden – das Mitgefühl, die Solidarität, Selbstlosigkeit etc. – besonders hoch angeschrieben und deshalb sind sie das geeignete Betätigungsfeld für Sozialcharaktere, die sich als Ersatz für ihr eigenes ungelebtes Leben vorzugsweise mit dem Leiden anderer identifizieren. Es sind aber gerade die höchsten Tugenden, die die niedersten Instinkte decken, wie schon Marx wusste: „Bis jetzt hat der Mensch sein Mitgefühl noch kaum ausgeprägt. Er empfindet es bloß mit dem Leiden, und dies ist gewiss nicht die höchste Form des Mitgefühls. Jedes Mitgefühl ist edel, aber das Mitgefühl mit dem Leiden ist die am wenigsten edle Form. Es ist mit Egoismus gemischt. Es neigt zum Morbiden [...] Außerdem ist das Mitgefühl seltsam beschränkt [...] Jeder kann für die Leiden eines Freundes Mitgefühl empfinden, aber es erfordert [...] das Wesen eines wahren Individualisten, um auch am Erfolg eines Freundes teilhaben zu können.“ (53) Und da jeder demonstrative Altruismus nicht nur einen kleinlichen Egoismus bemäntelt, sondern auch mit dem Anspruch des Idealisten einhergeht, erzieherisch auf das Objekt seiner Zuwendung einzuwirken, ist er die adäquate Ideologie von Rackets, und auch das ist Wilde nicht entgangen: Barmherzigkeit, so schreibt er, sei die „lächerlich unzulängliche Art der teilweisen Rückerstattung oder ein sentimentales Almosen, gewöhnlich verknüpft mit dem skandalösen Versuch des rührseligen Spenders, auf (das) Privatleben (der Armen) Einfluss zu nehmen.“ (54)
Im totalisierten Zugriff auf die ihr Unterworfenen ist die sozialistische Bewegung bis auf den heutigen Tag ebenfalls als ein Racket des Tugendterrors anzusprechen, betrachtet sie es doch als ihre Aufgabe, das Proletariat oder das gerade angesagte Subjekt seiner „wahren Bestimmung“ zuzuführen und d.h. es im Sinne der von ihm zu realisierenden Ideale zu erziehen – und das bedeutet stets noch: ihm die Untugenden und Laster auszutreiben, die der Vorhut als Male der individualistischen Bürgerwelt erscheinen: etwa Alkoholabusus, Faulenzerei, „zerrüttete“, „unsittliche“ Verhältnisse zwischen den Geschlechtern etc. Und um dieser Aufgabe gerecht zu werden, müssen die selbsternannten Vertreter der Klasse die von ihnen verfochtenen Tugenden in eigener Person glaubwürdig verkörpern und deshalb in einer noch rigideren Weise als der gemeine Bürger sich als Subjekte zurichten, d.h. ihre Individualität dem Allgemeinen (dem Kollektiv, der Klasse, dem Frieden etc.) opfern, um totale Identität mit ihm zu erlangen. Wenn Identität letzten Endes den Tod bedeutet, dann hat die Bemühung um sie vorzeitige Erstarrung und prämortale Leblosigkeit zur Folge – von daher die bis in die Gegenwart zu beobachtenden verhockten, verkniffenen und lauernden Mienen aller professionellen Menschheitsbeglücker, ihre rigide Zwangsmoral und durchgängige Humorresistenz, die immergleichen offiziösen Phrasen, die sie dreschen, die tödliche Langeweile, die von ihnen und ihrem penetranten Sendungsbewusstsein ausgeht, und ihr chronisches Beleidigtsein, wenn sie beim Gegenüber auch nur den Hauch eines Zweifels an ihrer aufgetragenen Gutartigkeit zu erspüren glauben. Und zu alldem glauben diese Leute sich auch noch ermächtigt, diese ihre trostlose Existenz zur verbindlichen Richtschnur für alle anderen zu erklären.
Was die Menschheitsbeglücker in Wahrheit bewirken, ist ihr eigener moralischer Selbstgenuss in der angemaßten oder tatsächlichen Herrschaft über andere, aber gerade nicht die praktische Lösung der Dinge, um die es ihnen vorgeblich so selbstlos zu tun ist: „In den Augen des Denkers allerdings liegt der wahre Schaden, den das moralische Mitgefühl anrichtet, darin, dass es unser Wissen begrenzt und so verhindert, dass wir auch nur eines unserer sozialen Probleme lösen.“ (55) Das Selbstopfer fürs Kollektiv erweist sich nicht nur als die wahre Selbstsucht, sondern auch als gegen die Gattung gerichtet: „Denn die Entwicklung der Gattung hängt von der Entwicklung des Individuums ab, und wo die Ausbildung der eigenen Persönlichkeit als Ideal abgedankt hat, ist das Absinken des intellektuellen Niveaus, wenn nicht gar dessen gänzliches Verschwinden die unmittelbare Folge.“ (56) Und das vorgeblich so praktische und zielorientierte Tun erweist sich als in Wahrheit konfus und unpraktisch: denn es verlässt den Bannkreis des Notwendigen und Zwanghaften nicht, ja, es bestärkt dessen Macht umso mehr, je auftrumpfender und verblendeter es sich in seiner moralischen Selbstgerechtigkeit verhärtet und alle Selbstaufklärung abwehrt. Solange die Gesellschaft den Individuen als fremde äußere Macht entgegentritt, verkehrt sich die gute Intention regelmäßig in ihr Gegenteil und ist menschliches Handeln „nur blindes Tun, abhängig von äußeren Einflüssen und angetrieben von einem dunklen Impuls, von dem es selbst nichts weiß. Es ist seinem Wesen nach unvollkommen, weil es vom Zufall begrenzt wird, und unwissend über seine eigentliche Richtung, befindet es sich zu seinem Ziel stets im Widerspruch [...] Jede unserer Taten speist die große Maschine des Lebens, die unsere Tugenden zu wertlosem Staub zermahlen oder aber unsere Sünden in Bausteine einer neuen Kultur verwandeln kann.“ (57)
Die Reichen sind besser
Agitatoren hält Wilde, im Gegensatz zu Weltverbesserern, für „absolut notwendig“, handelt es sich doch bei ihnen um Individualisten, „notorische Querulanten, die in eine vollkommen zufriedene soziale Schicht einbrechen und dort die Saat der Unzufriedenheit säen.“ (58) Und Individualismus wiederum stützt sich nicht auf Altruismus und Moral, sondern auf Kritik, auf die Fähigkeit, Vorgefundenes und Versteinertes aufzulösen und in Bewegung zu bringen: „Die Kritik, die keinen Standpunkt als endgültig anerkennt und sich weigert, dem seichten Schibboleth irgendeiner Sekte oder Schule blind zu folgen, bringt jenen heiteren philosophischen Geist hervor, der die Wahrheit um ihrer selbst willen liebt und sie nicht weniger liebt, weil er um ihre Unerreichbarkeit weiß.“ (59) Aber Kritik ist nicht nur ein heiter destruktives Tun, sondern auch ein heiter schöpferisches und darin notwendiger Bestandteil des eigentlich künstlerischen Tuns oder gar dessen Voraussetzung: „Denn nur der kritische Geist erfindet neue Formen [...] Dem kritischen Geist verdanken wir jede neu sich entwickelnde Schule, jedes Gestaltungsprinzip, dessen sich die Kunst bereitwillig bedient hat.“ (60) Und indem die Kritik, der „keine Denkweise fremd, keine Gefühlsregung dunkel erscheint“ (61), in schroffem Gegensatz zur Herderschen Lehre vom Volksgeist „auf der Einheit des menschlichen Geistes in allen seinen unterschiedlichen Form insistiert“, könnte sie nach Wilde jenen Kosmopolitismus befördern, den die Anhänger des Freihandels vergeblich herbeizuführen suchen und den die Friedensfreunde erst recht untergraben – und die Art, wie Wilde diese beschreibt, mag als Beleg dafür dienen, dass exakte kritische Phantasie es möglich macht, bereits 1891 die friedensseligen, anti-rassistischen no-globals und mit ihnen die gesamte der Völkerverständigung verpflichtete Europa-Ideologie von heute aufs Korn zu nehmen: „Heutzutage treten andere Gruppierungen auf, die sich auf das Gefühl des Mitleids oder auf die seichten Grundsätze eines abstrakten, unreflektierten Systems berufen. Sie haben ihre Friedensgesellschaften, die den Gefühlsmenschen so sehr am Herzen liegen, und ihre Vorschläge zur Einrichtung eines unbewaffneten internationalen Gerichtshofs werden von denen freudig begrüßt, die nie in der Geschichte gelesen haben [...] ein internationales Schiedsgericht, dem zum Wohle der Menschheit die Macht genommen ist, seine Entscheidungen auch durchzusetzen, wird wenig ausrichten können. Nur eines ist noch schlimmer als Ungerechtigkeit, nämlich Gerechtigkeit ohne das Schwert in der Hand. Wo Recht nicht auch Macht bedeutet, verkehrt es sich in ein Übel.“ (62)
Der historische Sozialismus war in seiner Affirmation der allgemein-menschlichen staatsbürgerlichen „Tugenden“ und, dazu komplementär, der produktiven Arbeit idealistisch, nicht kritisch. Und in seiner moralisierenden Behandlung des kapitalistisch konstituierten Klassengegensatzes kommt dies deutlich zum Ausdruck: einer¬seits in der Affirmation der Arbeiterklasse als des zur tugendhaften demokratischen Herrschaft berufenen Kollektivs und andererseits in der moralischen Verurteilung des bürgerlichen Individualismus und all seiner Erscheinungsformen: Egoismus, Liberalität, Müßiggang, Kontemplation, Ästhetizismus und Dekadenz. Wildes Betrachtung des kapitalistischen Klassenverhältnisses hingegen ist nicht nur frei von jeder Anklage, von moralischem Gezeter und identifikationsheischender Parteinahme: die Zurückweisung der „seichten, gefühlsseligen Tugenden“ (63) ist die erklärte Grundlage aller Betrachtung. In einer Passage des Sozialismus-Essays, in der er eine anarchistische Interpretation des Christentums unternimmt, heißt es: „Man beachte, dass Jesus nie sagt, die Armen seien zwangsläufig gut oder die Reichen zwangsläufig schlecht. Das wäre auch durchaus falsch.“ (64) Denn: „Die Reichen, sind, als Klasse gesehen, besser als die Armen, sie sind moralischer, gebildeter und gesitteter.“ (65) Und das ist keine Frage des Charakters, sondern eine der ökonomischen Bedingungen: „Durch die Existenz des Privateigentums sind heute viele Menschen imstande, sich einen gewissen, wenn auch sehr beschränkten Grad an Individualität zu bewahren. Entweder unterliegen sie nicht dem Zwang, für ihren Lebensunterhalt arbeiten zu müssen, oder sie können einer Tätigkeit nachgehen, die ihrem Wesen entspricht und ihnen Freude macht. Das sind die Dichter, die Philosophen, die Gelehrten und die Kultivierten – mit einem Wort, die wahren Menschen, die Menschen, die sich selbst verwirklicht haben und in denen die ganze Menschheit ihre teilweise Verwirklichung erfährt.“ (66) Auch unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen hat die Entwicklung von Individualität zwar Privilegiencharakter – aber da Klassenzugehörigkeit „an sich“ kein vorgegebenes Schicksal mehr und die Entwicklung von Individualität „an sich“ für alle erreichbar ist, hat dieselbe eine gesellschaftliche Qualität, die über ihren partikularen Charakter hinausweist und ein Versprechen beinhaltet.
Aber an der bürgerlichen Individualität ist nicht nur zu kritisieren, dass sie de facto nicht allen zugute kommt, sondern sie selbst als Form, d.h. ihr eigener objektiver Zwangscharakter. Heißt es bei Marx: „Die bürgerliche Klasse und die Klasse des Proletariats stellen dieselbe menschliche Selbstentfremdung dar. Aber die erste Klasse fühlt sich in dieser Selbstentfremdung wohl und bestätigt, weiß die Entfremdung als ihr eigne Macht und besitzt in ihr den Schein einer menschlichen Existenz, die zweite fühlt sich in der Entfremdung vernichtet, erblickt in ihr ihre Ohnmacht und die Wirklichkeit einer unmenschlichen Existenz“ (67), so nimmt Wilde, ohne auf Marx zu rekurrieren, diese Bestimmungen auf: „Der Besitz von Privateigentum ist häufig ausgesprochen demoralisierend, was einer der Gründe ist, warum der Sozialismus ihn abschaffen will. Tatsächlich ist Eigentum eine schwere Bürde [...] Eigentum verpflichtet nicht einfach, sondern es bürdet einem gleich so viele Pflichten auf, dass jeder Besitz nichts als Ärger einbringt. Ständig sieht man sich Forderungen ausgesetzt, muss sich laufend um seine Geschäfte kümmern und hat nur Scherereien. Wäre Eigentum nur mit Annehmlichkeiten verbunden, könnten wir damit leben, aber seine Verpflichtungen machen es unerträglich. Im Interesse der Reichen müssen wir es abschaffen.“ (68) Die Verschwendung des Kapitalisten besitzt nie „den boda fide Charakter der Verschwendung des flotten Feudalherrn, in ihrem Hintergrund (lauern) vielmehr stets schmutzigster Geiz und ängstlichste Berechnung“ (69), heißt es bei Marx. Als „Produktion um der Produktion willen“ setzt das Kapital den Privateigner nicht frei zum Genuss des universellen Reichtums, sondern unter den Zwang, sich als Funktionär der Verwertung zu betätigen; und daher ist die bürgerliche Individualität zugleich ihr eigener größter Feind: „Das Privateigentum hat den echten Individualismus zerstört und einen falschen Individualismus entstehen lassen. Es hat (einen Teil) der Gemeinschaft eines individuellen Seins beraubt, indem es ihm [...] eine schwere Last aufbürdete [...] Die Anstrengungen, ohne die kein Reichtum zu erwerben ist, sind eben¬falls überaus demoralisierend [...] Der Mensch schuftet sich zu Tode, um seinen Besitz zu vergrößern, was angesichts der ungeheueren Vorteile, die das Eigentum gewährt, auch kaum verwundern kann. Bedauerlich aber ist, dass die Gesellschaft so eingerichtet ist, dass der Mensch in eine Schablone gezwungen wird, in der er seine wunderbaren, faszinierenden und wertvollsten Anlagen nicht frei entfalten kann, ja, in der ihm letztendlich die wahre Freude am Leben verwehrt bleibt. Zudem führt er unter den gegenwärtigen Bedingungen eine höchst unsichere Existenz. Ein steinreicher Kaufmann kann in jedem Augenblick seines Lebens [...] der Willkür von Dingen ausgeliefert sein, die sich seiner Kontrolle entziehen. Eine unerwartet heftige Windbö, ein plötzlicher Wetterumschwung oder sonst ein alltägliches Ereignis kann sein Schiff sinken lassen, seine Spekulationen gänzlich zunichte machen, und schon steht er als armer Mann ohne jede gesellschaftliche Stellung da.“ (70)
Der „Willkür von Dingen“, die sich der Kontrolle entziehen, ist die abhängige Klasse in noch anderem Maße ausgeliefert: „Andererseits gibt es ebenso viele Menschen, die kein Privateigentum besitzen, die ständig am Rande des Verhungerns leben und dadurch gezwungen sind, die Arbeit von Lasttieren zu verrichten, Arbeit, die ihnen ganz und gar nicht zusagt und zu der allein die unerbittliche, vernunftwidrige, erniedrigende Tyrannei der Not sie treibt. Das sind die Armen und in deren Leben gibt es keine Zierde des Benehmens, keine anmutige Ausdrucksweise, keine Bildung oder Kultur, keine verfeinerten Genüsse und keine Lebensfreude. Aus ihrer kollektiven Kraft schöpft die Menschheit erheblichen materiellen Reichtum. Aber der Gewinn ist eben nur materieller Art, und der Arme als solcher ist völlig bedeutungslos. Er ist nur das winzige Atom einer Kraft, die ihn nicht nur missachtet, sondern ihn zermalmt, ja, die ihn sogar lieber zermalmt sieht, weil er dann weit gefügiger ist.“ (71) Bei Wilde also keine moralische Erhöhung der arbeitenden Klasse, keine Verherrlichung einer proletarischen Subkultur, wie es dann später Mode wurde, sondern die nüchterne Diagnose, dass demoralisierende Bedingungen demoralisierte Menschen hervorbringen und deswegen abgeschafft gehören: „Es gibt nur eine gesellschaftliche Klasse, die mehr ans Geld denkt als die Reichen, nämlich die Armen. Die Armen können an gar nichts anderes denken. Das ist das ärgste Elend des Armseins.“ (72) Als einzige „Tugend“ der subalternen Klassen vermag Wilde, in ironisierender Umwidmung des Begriffs, deren Aufsässigkeit anzuerkennen: „die besten unter den Armen sind nie dankbar. Sie sind undankbar, unzufrieden, eigensinnig und aufsässig. Und zwar ganz zurecht [...] Allein durch Auflehnung wurde Fortschritt möglich, durch Auflehnung und Aufsässigkeit.“ (73) Hingegen: „Was die tugendhaften Armen angeht, so kann man sie selbstverständlich bedauern, aber keinesfalls bewundern. Sie haben mit dem Feind ihren Frieden gemacht und ihr Geburtsrecht für eine dünne Suppe verkauft. Außerdem müssen sie himmelschreiend dumm sein.“ (74) Die Untugend der Anpassung bewirkt, dass die fällige Revolution vorerst ausbleibt und stattdessen auch die Herrschaft sich sozialstaatlich anpasst: „Wird sie mit einer gewissen Nachsicht ausgeübt und wirbt sie mit Belohnungen und Preisen, so ist ihre Wirkung furchtbar demoralisierend. In dem Fall sind die Menschen sich des schrecklichen Drucks, der auf ihnen lastet, weniger bewusst und gehen mit einer Art dumpfen Wohlbehagens durchs Leben [...] Die Autorität, die den Menschen zur Anpassung verleitet, bewirkt unter uns eine ausgesprochen krude Form übersättigten Barbarentums.“ (75)
Vor allem aber entbehrt Wildes Gesellschaftskritik jeglichen Kultus’ der Arbeit – selbst der kreativen! – den Wilde wie mit einer verächtlichen Gebärde abfertigt: „Und da wir einmal beim Begriff der Arbeit sind, will ich nicht unterlassen hinzuzufügen, dass heutzutage sehr viel dummes Zeug über die Würde der körperlichen Arbeit gesagt und geschrieben wird. Dabei besitzt körperliche Arbeit nichts, was notwendigerweise Würde verleiht, und ist zumindest absolut entwürdigend. Eine Tätigkeit, die ohne Freude ausgeübt wird, ist für einen Menschen geistig und moralisch erniedrigend, und viele Formen der Arbeit sind ganz und gar freudlose Verrichtungen und sollten als solche gesehen werden [...] Der Mensch ist für Besseres geschaffen, als im Dreck zu wühlen. Alle Arbeiten dieser Art sollten von Maschinen verrichtet werden.“ (76) Wilde setzt also ganz auf die Entwicklung der technischen Produktivkräfte, die unter anderen gesellschaftlichen Umständen endlich dazu dienen können, die gesellschaftlich notwendige Arbeit in einen den Menschen nicht mehr fremden, sondern von ihnen kontrollierten sachlichen Prozess zu verwandeln und sie alle für „Kultur und Kontemplation“ freizusetzen: „Und ich zweifle nicht, dass es dereinst so sein wird. Bislang ist der Mensch bis zu einem gewissen Grad immer der Sklave der Maschine gewesen, und es hat geradezu etwas Tragisches, dass mit der Erfindung jeder Maschine, die ihm die Arbeit abnahm, zugleich auch die Not des Menschen wuchs. Der Grund dafür liegt natürlich in unserem System des Eigentums und des privaten Wettbewerbs [...] Alle mechanische, eintönige und stumpfsinnige Arbeit, alle Verrichtungen, die mit widerlichen Dingen zu tun haben und unter unerfreulichen Bedingungen stattfinden, muss von Maschinen geleistet werden [...] Es ist nun einmal so, dass die Zivilisation nicht ohne Sklaven auskommt. Die Griechen hatten darin ganz recht. Ohne Sklaven, die alle widerwärtige, unerträgliche und monotone Arbeit ausführen, werden Kultur und Kontemplation nahezu unmöglich. Die Versklavung von Menschen ist ungerecht, unsicher und demoralisierend. Vom mechanischen Sklaventum, von der Sklaverei der Maschine, hängt die Zukunft der Welt ab.“ (77)
Kunst und Kult
Die Misere des Sozialismus von seinen Anfängen bis heute war und ist stets zuverlässig abzulesen an seiner Verachtung aller autonomen, zweckfreien, in sich begründeten und eben darin gesellschaftlich bestimmten Kunst, weil sie die – prekäre und unvollständige – Emanzipation des Individuums von Blut, Scholle, Rasse, Kollektiv vorausträumt und ihr Ausdruck verleiht. Die Kunst, die sozialistische Bewegungen oder Regimes dann hervorbringen und fördern, eine Kunst, die „Partei ergreifen“, „Stellung beziehen“ und „gesellschaftliche Verantwortung“ dokumentieren soll, zerstört jedoch sich selbst und ihre Voraussetzungen. (78) Kunst, die sich freiwillig heteronomen Zwecken dienstbar macht, entkunstet sich selbst und antizipiert darin jene freiwillige Entindividuierung, auf die die modernen totalitären Regimes bauen; solche Kunst regrediert auf das, woraus sie einmal entsprang: auf den stereotypen Kult, der als Kult der Arbeit, des Volks, der Indigenen, kurz: des Kollektivs mit modernen technischen Mitteln inszeniert wird und in der Verherrlichung des individuellen Opfers fürs gerade angesagte Kollektiv seinen widerlichen Gipfelpunkt findet. Die unvermeidlichen Konsequenzen sind einerseits die Regression der ästhetischen Formensprache auf Tickets, Clichés, auf Schwulst und Gesinnungskitsch; und, damit korrespondierend, andererseits die Zerstörung der unabdingbar individuellen ästhetischen Erfahrung und jener Lebenshaltungen, die gleichermaßen die Voraussetzung wie das Resultat von Kunsterfahrung sind: Privatheit, Muße und Kontemplation.
Mit Wilde ist in dieser Angelegenheit nicht zu rechten: für ihn ist „engagierte Kunst“ ein Ausdruck jenes altruistischen „Zwangs, für andere zu leben“ (79) und deshalb steht für ihn außer Frage, „dass wo immer eine Gesellschaft oder ein starker Teil der Gesellschaft oder irgendeine Regierung versucht, dem Künstler Vorschriften zu machen, die Kunst entweder ganz verschwindet oder sich in Stereotypen erschöpft oder zu einer belanglosen, billigen Form des Kunsthandwerks verkommt.“ (80) Und umgekehrt: „Sobald der Künstler auf die Bedürfnisse anderer achtet und ihnen nachzukommen versucht, hört er auf, Künstler zu sein, und wird ein erfolgloser oder gefragter Handwerker, ein anständiger oder gerissener Händler. Er hat keinen Anspruch mehr, als Künstler betrachtet zu werden.“ (81) Alle Autorität, die sich anmaßt, über die Kunst und den Künstler zu befinden – sei es der Staat, die Religion, das „monströse und geistlose Wesen“ (82) der öffentlichen Meinung oder die Presse, ist lächerlich und rund¬weg abzulehnen: „Für den Künstler gibt es nur eine geeignete Regierungsform, und zwar keine Regierung.“ (83) Und nicht nur für den Künstler, denn „was in der Kunst wahr ist, ist auch für das Leben wahr.“ (84)
Zweifellos schreibt Wilde hier aus eigener Erfahrung und ist dabei merkbar in seinem Element – zum Glück, denn eine Verleugnung seiner selbst und seiner Art wäre ihm nie in den Sinn gekommen. Und doch ist sein Schreiben über Kunst keine platte und schale Selbstrechtfertigung, sondern verströmt einfach jene Großzügigkeit, die aller selbstreflexiven Haltung eignet, weil sie das eigene Tun als allgemein-menschliches erkennt und sich nicht in sich verkapseln muss. Die Kunst und die Erfahrung, die sie ermöglicht, gibt dafür das Modell ab. Alle Individualität, um deren Ermöglichung es doch einem Kommunismus, der den Namen verdiente, gehen muss, bildet und schult sich an ästhetischer Erfahrung; die „Phantasie“ oder „Seele“ – wie Wilde im Vorgriff auf die Psychoanalyse schreibt – die der Erfahrende im Spiegel der Kunst mobilisiert, „kann uns helfen, dem Zeitalter zu entkommen, in das wir hineingeboren sind, und in andere Zeitalter hineinzutauchen [...] Sie kann uns lehren, aus unserer eigenen Erfahrung auszubrechen und die Erfahrungen anderer zu machen, die größer sind als wir.“ (85) Und möglich ist das, weil Kunst selber ein gestaltetes Produkt der Phantasie ist, die Wilde „als die verdichtete Erfahrung der Menschheit“ (86) bestimmt. Der Gebrauchswert von Kunst besteht also gerade in ihrer Zweckfreiheit, also darin, dass sie von sich aus das instrumentelle Verhältnis des Subjekts zur Dingwelt, das im Begriff des Gebrauchswerts doch notwendig gegeben ist, gerade¬zu ins Gegenteil verkehrt – dadurch, dass sie als ein der Dingwelt angehöriges, aber ihr zugleich entsprungenes Artefakt das Subjekt in Anschauung bzw. Anhörung ihrer eigenen Rätselgestalt zur Selbstreflexion und zur Besinnung auf seine eigenen Möglichkeiten provoziert. Das heißt: nicht das Subjekt erkennt Kunst, sondern die Kunst erkennt das Subjekt und ihr ästhetischer Rang bemisst sich daran, je nachdrücklicher es ihr gelingt, als ein solch Sperriges, Nichtidentisches zu fungieren: „Wer sich einem Kunstwerk mit der Absicht nähert, sich des Werks und des Künstlers in irgendeiner Weise zu bemächtigen, nähert sich mit einer Haltung, die es unmöglich macht, dass er überhaupt einen künstlerischen Eindruck empfängt. Das Kunstwerk soll den Betrachter beherrschen: Der Betrachter soll nicht das Kunstwerk beherrschen. Der Betrachter soll empfänglich sein. Er soll die Geige sein, die der Musiker spielt. Und je mehr er seine eigenen absurden Vorstellungen darüber, was die Kunst sein soll oder auch nicht sein soll, unterdrücken kann, desto eher wird es ihm gelingen, das betreffende Kunstwerk zu verstehen.“ (87) Das erfahrende Subjekt „ist lediglich zur Betrachtung eines Kunstwerks eingeladen, um während des Betrachtens, sofern es sich um ein echtes Kunstwerk handelt, alle verblendete Voreingenommenheit zu vergessen – und zwar sowohl die aus Ignoranz als auch aus Wissen geborene Voreingenommenheit.“ (88)
Individualistischer Sozialismus: Es ist schon sehr bemerkenswert, wie unbedingt und absolut Wilde in seiner ästhetischen Theorie, die hier nur umrisshaft dargestellt werden kann, die Sache der Kunst verficht und dabei an keiner Stelle der doch naheliegenden Versuchung der Kunstreligion, wie sie im 19. Jahrhundert en vogue war , oder auch nur dem Begriffszauber durch Ästhetisierung der Philosophie wie dann bei Heidegger und im Poststrukturalismus erliegt. Konsequent hebt er stattdessen an der Kunst ihr individualistisches und kritisches Moment hervor: „Kunst ist Individualismus und der Individualismus ist eine verstörende und zersetzende Kraft. Gerade darin liegt sein unermesslicher Wert. Denn was er aufzubrechen versucht, ist die Einförmigkeit des Typischen, die Sklaverei der Konvention, die Tyrannei der Gewohnheit und die Erniedrigung des Menschen auf das Niveau einer Maschine.“ (89) Als zweckfreies, unpraktisches, nicht auf Handlung und Intentionen gerichtetes Phänomen steht Kunst und das von ihr geforderte individuelle Verhalten polemisch gegen das „Reich der Notwendigkeit“: „Denn das Ziel der Kunst besteht in der Empfindung um der Empfindung willen, während die Empfindung um der Tat willen das Ziel des Lebens und eben auch jener praktischen Organisation des Lebens ist, die wir Gesellschaft nennen.“ (90) Und darin gibt sie einen Vorschein tatsächlicher Freiheit, als Befreiung vom Diktat des Praktikablen und Zweckgerichteten, das durch die Automatisierung der gesellschaftlichen Produktion endlich für alle erreichbar wäre: „Ja, Ernest: das kontemplative Leben, jenes Leben, dessen Ziel nicht im Tun, sondern im Sein liegt, und auch nicht im bloßen Sein, sondern im Werden – das ist es, was uns der kritische Geist geben kann [...] Auch wir könnten so leben und uns als Zuschauer den wechselvollen Empfindungen hingeben, die das Treiben der Menschen und der Natur ins uns wecken. Wir könnten uns vergeistigen, indem wir allem Handeln entsagen und unser Wesen durch die Zurückweisung der Tatkraft vervollkommnen. Gelassen, selbstzufrieden und frei von jedem Drang betrachtet der ästhetische Kritiker das Leben [...] Ist ein solches Leben amoralisch? Gewiss; alle Künste sind amoralisch, ausgenommen die niederen Formen der sinnlichen oder belehrenden Kunst, die uns zu guten oder schlechten Taten anstiften wollen [...] Ist ein solches Leben unpraktisch? Pah! Es ist gar nicht so leicht, unpraktisch zu sein, wie der kleingeistige Philister sich das vorstellt [...] Wir brauchen vor allem unpraktische Leute, die über den Augenblick hinaussehen und über den Tag hinausdenken.“ (91) In diesem umfassenden Begriff von Theorie als einer Lebensform, nicht bloß als mentalem Vorgang, wird beson¬ders deutlich, wie Wilde den geistigen Widerschein der ersten Bürgerwelt, die griechische Philosophie, vor dem Hintergrund der entfalteten Bürgerwelt des 19. Jahrhunderts in durchaus materialistischer Absicht wiederaufnimmt und einem der Individualität verpflichteten Sozialismus anverwandelt. Deshalb heißt es auch am Ende des Sozialismus-Essays: der neue Individualismus „wird die Erfüllung dessen sein, wonach die Griechen strebten, was sie aber außer im Geist nicht verwirklichen konnten, weil sie Sklaven hielten und ihnen zu essen gaben [...] Der neue Individualismus ist der neue Hellenismus.“ (92)Dieser neue Individualismus, das kontemplative, der Kunstbetrachtung gewidmete, individualistische Leben, das nach Wilde die Künstlerexistenz ausmacht und das im Sozialismus verallgemeinert werden soll, hat mit Egoismus, anders als der bürgerliche Individualismus, nichts mehr gemein: an diesem sind gerade die scheinbar altruistischen, weltzugewandten Haltungen Ausdruck einer abgeschirmten Selbstbezüglichkeit, während gerade die scheinbar weltabgewandte, in sich ruhende Kontemplation einen neuen und endlich unbefangenen Weltbezug, einen „Geist vorurteilsfreier Neugier“ (93) ausprägt. Wenn Wilde die „Selbstlosigkeit“ als hervorragende Eigenschaft eines anderen Individualismus rühmt, dann meint dies natürlich nicht das Selbstopfer des Einzelnen, sondern: die Befreiung des Individuums vom Zwang, sich als „Eigentümer seiner selbst“ denken und verhalten zu müssen, die Abschaffung der Notwendigkeit, seine Erfahrungen wie Privat-Eigentum zu behüten, die Verunmöglichung der fatalen Neigung, sich als vermeintlich mit sich identisches Wesen in seiner vermeintlichen Substantialität zu verhärten – bzw. positiv: die Möglichkeit, dass das Individuum sich bewusst als gesellschaftliches, weltzugewandtes Wesen, als „Schauplatz“ (Adorno) aller vielfältigen Beziehungen begreifen kann, die es eingehen kann oder auch nicht. Oder, mit anderen Worten: Selbstlosigkeit meint die „Gabe aller Personen, sich ohne Rest mitzuteilen: als leuchtend vollständige Anwesenheit jedes Einzelnen in dem Verhältnis, das er zu jedem Anderen [...] knüpft“; dass die Individuen „durch keine Zwischenräume fahler Zweideutigkeit getrennt (werden): der Umriss der einen ist die Grenze der anderen.“ (94) Wenn Wilde also schreibt: „Der Individualismus wird ungekünstelt und selbstlos sein“, dann klärt er zugleich darüber auf, wie die „Tyrannei der Autorität“ den Sinn dieser Worte ins Gegenteil verkehrt hat: „Wahrhaft selbstsüchtig ist, wer sein Leben nicht nach eigenen Vorstellungen lebt, sondern andere fragt, wie er leben soll [...] Selbstsucht strebt immer danach, der gesamten Umwelt ein Einheitsmaß aufzuzwingen“, wohingegen: „Selbstlosigkeit bedeutet, andere Leute in Ruhe zu lassen, sich nicht in ihr Leben einzumischen [...] Die Selbstlosigkeit weiß die unendliche Vielfalt als etwas Kostbares zu schätzen, sie akzeptiert sie, lässt sie gewähren und erfreut sich an ihr.“ (95) Wildes Konzeption eines individualistisch geprägten Sozialismus ist darin so bedeutend und gesellt sie der „Kritischen Theorie“ zu, dass in ihr an die Menschen keine höheren Ansprüche gestellt werden, die sie zu erfüllen, kein positives „Wesen“ aufgerichtet, das sie zu beglaubigen, kein Ideal postuliert, das sie zu verwirklichen hätten: „Unter der Herrschaft des Individualismus werden die Menschen vollkommen selbstlos und natürlich sein, sie werden den Sinn der Wörter richtig verstehen und ihn in einem freien und schönen Leben verwirklichen. Denn Egoismus bedeutet, Ansprüche an andere zu stellen, und das wird dem Individualisten völlig fern liegen. Er wird keine Freude darin sehen. Wenn der Mensch den Individualismus verwirklicht hat, wird er auch Mitgefühl entwickeln und es frei und spontan äußern [...] Wenn der Sozialismus das Problem der Armut und die Wissenschaft das Problem der Krankheit gelöst hat, wird der Spielraum für aufgesetzte Rührseligkeit schrumpfen und das Mitgefühl des Menschen wird umfassend, gesund und spontan sein. Der Mensch wird mit Freude das freudige Leben der anderen betrachten.“ (96) Wildes Denken ist tatsächlich so völlig frei von jeder positiven Wesensmetaphysik und rigider Schulmeisterei, dass er es sich ohne weiteres leisten kann, das Utopieverbot bisweilen zu durchbrechen, ohne peinlich zu werden: „Eine Weltkarte, auf der das Land Utopia nicht verzeichnet ist, verdient nicht einmal einen flüchtigen Blick, denn ihr fehlt das Land, das die Menschheit seit jeher ansteuert. Kaum hat sie aber dessen Küste erreicht, hält sie Ausschau, erblickt ein noch verlockenderes Land und setzt erneut die Segel. Der Fortschritt besteht in der Verwirklichung von Utopien.“ (97) Aber Wilde ist kein Utopist im schlechten Sinne, weil er genau weiß, dass Glück unabdingbar individuell ist, nichts, was sich unmittelbar gesellschaftlich herstellen ließe. Herstellen lassen sich nur die Bedingungen der Möglichkeit von Glück und freier Entfaltung, und eben dies ist die Aufgabe des Sozialismus: „Der Sozialismus, Kommunismus, wie immer man die Sache nennen will, wird durch die Umwandlung des Privateigentums in Allgemeinvermögen und dadurch, dass die Kooperation an die Stelle der Konkurrenz tritt, der Gesellschaft den ihr angemessenen Zustand eines gesunden Organismus zurückgeben und für das materielle Wohl eines jeden Mitglieds der Gemeinschaft sorgen. Mithin, er wird dem Leben eine ihm gemäße Grundlage und Umgebung verschaffen.“ (98) Was danach kommen mag, darf man ruhig auch dann und wann vorausträumen; und die Worte, die Wilde dafür findet, gehören neben Adornos Bemerkung, der andere Zustand sei einer, in dem man ohne Angst verschieden kann, zu den klarsten und bewegendsten, die je ein Kritiker und Künstler gefunden hat: „Sie wird wie ein Wunder sein – die wahre Persönlichkeit des Menschen – wenn sie sich vor unseren Augen entfaltet [...] Sie wird keine Zerrissenheit mehr kennen. Sie wird weder streiten noch diskutieren. Sie wird nichts beweisen wollen. Sie wird alles wissen. Doch sie wird sich nicht kleinlich um Wissen bemühen. Sie wird weise sein. Ihr Wert wird sich an keinem materiellen Maßstab messen lassen. Sie wird nichts ihr eigen nennen. Und doch wird sie alles besitzen, und was immer man ihr nimmt, wird ihren Reichtum nicht schmälern. Sie wird sich nicht vor anderen aufspielen und sie drängen, so zu werden wie sie selbst. Sie wird sie lieben, gerade weil sie verschieden sind. Und auch wenn sie sich niemandem aufdrängt, wird sie allen helfen, so wie etwas Schönes uns allein durch sein Dasein hilft. Die Persönlichkeit des Menschen wird ein unvergleichliches Wunder sein.“ (99)Den Einwand, ein individualistischer Sozialismus laufe der „menschlichen Natur“ zuwider, quittiert Wilde mit der Bemerkung: „Das ist völlig richtig [...] Gerade deshalb ist er es wert, verwirklicht zu werden [...] Von der menschlichen Natur lässt sich nur eins zweifelsfrei sagen, und zwar, dass sie sich unablässig verändert.“ (100) Allen Identitätsaposteln, die nicht vorwärts zur Natur, sondern zu ihr zurück wollen, hat Wilde einen Satz ins Stammbuch geschrieben, der den absoluten Gegenpol zu aller dem bürgerlichen Individuum eingeschriebenen Naturalisierung markiert, der alles im Grunde austauschbare Gerede pro und contra Rasse einfach ignoriert, d.h. den Standpunkt des Kollektivs als solchen negiert und der insofern als der einzige wahre anti-rassistische Satz gelten darf: „Die erste Pflicht im Leben ist, so künstlich wie möglich zu sein. Die zweite Pflicht ist noch unbekannt.“ (101)
Clemens Nachtmann”

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