Archiv für die Kategorie 'Der Fortsetzungsroman'

CodeWurst

Montag, 2. April 2012 at 21:50

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Antithese. – Für den, der nicht mitmacht, besteht die Gefahr, daß er sich für besser
hält als die andern und seine Kritik der Gesellschaft mißbraucht als Ideologie für sein
privates Interesse. Während er danach tastet, die eigene Existenz zum hinfälligen
Bilde einer richtigen zu machen, sollte er dieser Hinfälligkeit eingedenk bleiben und
wissen, wie wenig das Bild das richtige Leben ersetzt. Solchem Eingedenken aber widerstrebt die Schwerkraft des Bürgerlichen in ihm selber. Der Distanzierte bleibt so
verstrickt wie der Betriebsame; vor diesem hat er nichts voraus als die Einsicht in
seine Verstricktheit und das Glück der winzigen Freiheit, die im Erkennen als
solchem liegt. Die eigene Distanz vom Betrieb ist ein Luxus, den einzig der Betrieb
abwirft. Darum trägt gerade jede Regung des sich Entziehens Züge des Negierten. Die
Kälte, die sie entwickeln muß, ist von der bürgerlichen nicht zu unterscheiden. Auch
wo es protestiert, versteckt sich im monadologischen Prinzip das herrschende
Allgemeine. Die Beobachtung Prousts, daß die Photographien der Großväter eines
Herzogs und eines Juden aus dem Mittelstand einander so ähnlich sehen, daß keiner
mehr an die soziale Rangordnung denkt, trifft einen weit umfassenderen Sachverhalt:
objektiv verschwinden hinter der Einheit der Epoche alle jene Differenzen, die das
Glück, ja die moralische Substanz der individuellen Existenz ausmachen. Wir stellen
den Verfall der Bildung fest, und doch ist unsere Prosa, gemessen an der Jacob
Grimms oder Bachofens, der Kulturindustrie in Wendungen ähnlich, von denen wir
nichts ahnen. Überdies können auch wir längst nicht mehr Latein und Griechisch wie
Wolf oder Kirchhoff. Wir deuten auf den Übergang der Zivilisation in den
Analphabetismus und verlernen es selber, Briefe zu schreiben oder einen Text von
Jean Paul zu lesen, wie er zu seiner Zeit muß gelesen worden sein. Es graut uns vor
der Verrohung des Lebens, aber die Absenz einer jeden objektiv verbindlichen Sitte
zwingt uns auf Schritt und Tritt zu Verhaltensweisen, Reden und Berechnungen, die
nach dem Maß des Humanen barbarisch und selbst nach dem bedenklichen der guten
Gesellschaft taktlos sind. Mit der Auflösung des Liberalismus ist das eigentlich
bürgerliche Prinzip, das der Konkurrenz, nicht überwunden, sondern aus der
Objektivität des gesellschaftlichen Prozesses in die Beschaffenheit der sich stoßenden
und drängenden Atome, gleichsam in die Anthropologie übergegangen. Die
Unterwerfung des Lebens unter den Produktionsprozeß zwingt erniedrigend einem
jeglichen etwas von der Isolierung und Einsamkeit auf, die wir für die Sache unserer
überlegenen Wahl zu halten versucht sind. Es ist ein so altes Bestandstück der
bürgerlichen Ideologie, daß jeder Einzelne in seinem partikularen Interesse sich
besser dünkt als alle anderen, wie daß er die anderen als Gemeinschaft aller Kunden
für höher schätzt als sich selber. Seitdem die alte Bürgerklasse abgedankt hat, führt
beides sein Nachleben im Geist der Intellektuellen, die die letzten Feinde der Bürger
sind und die letzten Bürger zugleich. Indem sie überhaupt noch Denken gegenüber
der nackten Reproduktion des Daseins sich gestatten, verhalten sie sich als
Privilegierte; indem sie es beim Denken belassen, deklarieren sie die Nichtigkeit ihres
Privilegs. Die private Existenz, die sich sehnt, der menschenwürdigen ähnlich zu
sehen, verrät diese zugleich, indem die Ähnlichkeit der allgemeinen Verwirklichung
entzogen wird, die doch mehr als je zuvor der unabhängigen Besinnung bedarf. Es
gibt aus der Verstricktheit keinen Ausweg. Das einzige, was sich verantworten läßt,
ist, den ideologischen Mißbrauch der eigenen Existenz sich zu versagen und im
übrigen privat so bescheiden, unscheinbar und unprätentiös sich zu benehmen, wie es
längst nicht mehr die gute Erziehung, wohl aber die Scham darüber gebietet, daß
einem in der Hölle noch die Luft zum Atmen bleibt.

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Letzte Klarheit. – Im Zeitungsnachruf für einen Geschäftsmann stand einmal: »Die
Weite seines Gewissens wetteiferte mit der Güte seines Herzens.« Die Entgleisung,
die den trauernden Hinterbliebenen in der für solche Zwecke aufgesparten, gehobenen
Sprache widerfuhr, das unfreiwillige Zugeständnis, der gütige Verblichene sei
gewissenlos gewesen, expediert den Leichenzug auf dem kürzesten Weg ins Land der
Wahrheit. Wenn von einem Menschen vorgeschrittenen Alters gerühmt wird, er sei
besonders abgeklärt, so ist anzunehmen, daß sein Leben eine Folge von Schandtaten
darstellt. Aufregung hat er sich abgewöhnt. Das weite Gewissen installiert sich als
Weitherzigkeit, die alles verzeiht, weil sie es gar zu gründlich versteht. Zwischen der
eigenen Schuld und der der anderen tritt ein quid pro quo ein, das zugunsten dessen
aufgelöst wird, der das bessere Teil davontrug. Nach einem so langen Leben weiß
man schon gar nicht mehr zu unterscheiden, wer wem was angetan hat. In der
abstrakten Vorstellung des universalen Unrechts geht jede konkrete Verantwortung
unter. Der Schuft wendet sie so, als ob es gerade ihm widerfahren wäre: wenn Sie
wüßten, junger Mann, wie das Leben ist. Die aber schon mitten in jenem Leben durch
besondere Güte sich auszeichnen, sind meist die, welche einen Vorschußwechsel auf
solche Abgeklärtheit ziehen. Wer nicht böse ist, lebt nicht abgeklärt, sondern in einer
besonderen, schamhaften Weise verhärtet und unduldsam. Aus Mangel an geeigneten
Objekten weiß er seiner Liebe kaum anders Ausdruck zu verleihen als im Haß gegen
die ungeeigneten, durch den er freilich wiederum dem Verhaßten sich angleicht. Der
Bürger aber ist tolerant. Seine Liebe zu den Leuten, wie sie sind, entspringt dem Haß
gegen den richtigen Menschen.

fickdreck

von horst

SO viele Kaus in X Blogs: will einen : Daniel im Arsch Blog :) 2

Donnerstag, 2. Februar 2012 at 06:08

von horst

Mittwoch, 14. September 2011 at 21:42

“(…)Künstlichkeit als Fortschritt

Angesichts eines gleichermaßen verhärteten wie entfesselten Kollektivs repräsentiert das zur Abseitigkeit und Ohnmacht verurteilte Individuelle das Bessere. Dies ist ein unbedingtes Desiderat jeder Kritik des Bestehenden in revolutionärer Absicht. Jeder Versuch, die erbärmlichen Verhältnisse abzuschaffen, in denen die Menschen heute zu vegetieren gezwungen sind, bezieht sich notwendig auf das universalistische Glücksversprechen bürgerlicher Aufklärung auf ihrem historischen und d.h.: revolutionären Höhepunkt am Vorabend der Etablierung des vermeintlichen Paradieses auf Erden, der bürgerlichen Republik. Dieses Glücksversprechen ist der selbstverständliche Einsatzpunkt kommunistischer Kritik und bestimmt die Form und Richtung der Ideologiekritik bürgerlicher Subjektivität. Das abstrakte Individuum, dessen Glück und vernünftige Selbstbestimmung die bürgerliche Revolution proklamierte, konstituierte sich gegen die blinde und irrationale Gewalt der den Naturzwang unmittelbar repräsentierenden und deshalb weithin selber noch weithin naturhaften vorkapitalistischen Gemeinwesen. Die bürgerliche Gesellschaft emanzipiert die Individuen von unmittelbaren Herr- und Knechtschaftsverhältnissen und setzt sie als freie und gleiche Subjekte. Als gegeneinander vereinzelte Einzelne, die sich immer erst post festum des Produzierens vermittels ihrer Waren aufeinander beziehen, setzt sich ihre Gesellschaftlichkeit als blindes Verhängnis durch sie hindurch und über sie hinweg durch. Das bürgerliche Individuum ist also immer schon Ausdruck und Agent dessen, wogegen es sich seinem Selbstverständnis nach wendet. Damit ist es wahr und unwahr zugleich: wahr, weil es sich vom Naturverband als eine sich in sich selbst reflektierende Instanz losgerissen hat, die mehr und anderes meint als bloß das biologische Einzelexemplar, und unwahr: weil gerade die abgeblendete Partikularität das Prinzip blinder Selbsterhaltung perpetuiert und das Individuum zum Funktionär eines blinden Getriebes stempelt. Daß bürgerliche Individualität demnach scheinhaft bleibt und schließlich liquidiert wird – das ist eine Diagnose, die ein kritischer Materialismus nicht achselzuckend oder mit heimlicher Befriedigung, sondern mit Empörung trifft, in der Absicht und Hoffnung, gegen eine mit Opfer und Zwang notwendig verschränkte Individualität wirkliche Individuation und das größtmögliche Glück für alle endlich durchzusetzen.

Doch auf diesem Niveau der Kritik befand sich revolutionäre Empörung nie. Stets verlangte es die Empörten nach der Identifikation mit der scheinbar archaischen und ursprünglichen Widerständigkeit eines Kollektivsubjekts, das sich nicht auf die Suche nach Glück begibt, sondern der Wiederherstellung vermeintlich uralter Rechtsverhältnisse verpflichtet ist. Die schlechte Identifizierung mit Unabhängigkeitsbestrebungen an der Peripherie ist legitimes Kind einer falschen Kritik an der bürgerlichen Vergesellschaftung, die schon Marx zeitlebens erfolglos bekämpfte, einer Kritik, die an der bürgerlichen Welt nicht die Liquidierung des Subjekts als Individuum bemängelte, sondern nach dem Motto: „Was fällt, das sollt ihr stoßen!“ jene Liquidation nur noch beschleunigen half. An die Stelle von Marxens Kritik an der objektiven Gier des Kapitalisten, die er als charakterliches Introjekt des objektiven Verwertungszwangs dechiffrierte, setzten seine sozialdemokratischen und parteikommunistischen Nachfolger ein der reaktionären und lebensphilosophischen Kulturkritik ebenbürtiges Lamento über den egoistischen Menschen, der Vereinzelung, Anonymität, Gier und Laster über die Welt gebracht habe. Das bürgerliche Individuum wurde hier schon, gleichsam Heidegger vorausäffend, als Kunstprodukt, als ein seinen eigenen echten Bedürfnissen und Gefühlen entfremdetes, sie verleugnendes und ihnen zuwiderhandelndes Subjekt diffamiert, dem der wirkliche Mensch entgegenzusetzen sei. Statt in der Künstlichkeit den Fortschritt zu erkennen, die Ablösung vom Naturzusammenhang zu feiern und die völlige, weil selbstbestimmte Künstlichkeit einzufordern, wurde dem vom Kapitalismus geschaffenen und bisher einzig denkbaren Vorschein von Individualität das kollektivistische Ideal einer organischen Gemeinschaft entgegengestellt, in der von jeher alles zum Glück Erforderliche ruhe, wenn sie nur zur Ursprünglichkeit zurückfände. Hinter dem versachlichten Menschen sollte der eigentliche Mensch und gute Wilde entdeckt werden, dem unter berufener Führung zum Bewußtsein seiner „Eigentlichkeit“ zu verhelfen sei: zu seinem „natürlichen“ Dasein als subordiniertes Glied eines Volksganzen. Der solcherart natürliche Mensch wäre dann nicht mehr länger individuell, d.h. egoistisch, nicht mehr eingebildeter Herr der Welt, sondern Schicksalsgenosse eines in sich geschlossenen Kollektivs. So ist unter tatkräftigem Engagement seiner nur eingebildeten historischen Antagonisten das Weltbürgertum, in dem die Möglichkeit des Kommunismus schon aufschien, in ein Welthordentum umgeschlagen, in dem die Individuen fast schon zoologisch in ihnen zugewiesenen Lebensräumen ihr Dasein fristen.

In dieser reaktionären Kapitalismuskritik, die genausogut unter antiimperialistischen wie faschistischen Vorzeichen Verbreitung finden kann, haben die letzten Bürger keinen Platz – jene also, die ins Staatsbürgerdasein objektiv hineingezwungen wurden und aufgrund ihrer weltweiten Verfolgung, die sie als völlig Unzusammengehörige gleichwohl aneinander kettet, sich ihren weltweit zugänglichen Aufenthaltsort in Form eines Staates gegründet und dabei ein im schönsten Sinne des Wortes künstliches Gebilde geschaffen haben. Als geschichtlichen Grund kennt dieser Staat nur die Verfolgung von Menschen, die sich ansonsten wenig zu sagen gehabt hätten, die – ganz Bürger – einen Streifen Land sich käuflich angeeignet haben, auf dem sie nie zuvor gewesen sind und die in dreißig Jahren einen Staatsgründungsprozeß vollzogen haben, dessen Unnatürlichkeit sich von anderen Nationswerdungen nur deshalb so deutlich abhebt, weil man statt einiger Jahrhunderte eben nur ein Menschenalter sich verordnet hatte.(…)”
Redaktion BAHAMAS

von horst